Dreimal geht es in diesem Monat November um die Toten: zu Anfang mit dem Gräbergang an Allerseelen; heute am Volkstrauertag; und gegen Ende, am Totensonntag, beten die Evangelischen. Die Kirchen verfügen über althergebrachte Riten.

Für unseren Volkstrauertag gilt als feststehender Brauch die Kranzniederlegung am Ehrenfriedhof und Ehrenmal sowie das gemeinsame Lied vom guten Kameraden.

Darin wird der Ursprung des Volkstrauertages sichtbar: am Ende der Massenschlächterei des Ersten Weltkrieges gründeten die Überlebenden den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der mit einem eigenen Feiertag das Andenken an die Gefallenen und ihre Gräber pflegen wollten. Seinerzeit wurde das in einem vorwiegend nationalen Rahmen verstanden. Schon die Bezeichnung des Volksbundes als deutsch - Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge - läßt erkennen: es war damals noch nicht ins Bewußtsein getreten, daß dieser Krieg nur der Anfang der europäischen Selbstzerfleischung war, die mit Millionen von Toten den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts kennzeichnen sollte. Denn trotz allen Gedenkens ging es mit dem Kriegführen weiter, zuerst im Baltikum, später in Spanien. Weit schlimmer aber war, daß es mit dem Morden weiterging, anfangs mit den russischen Revolutionären, dann mit den nationalsozialistischen. Charakteristisch wurde jetzt, daß es nicht um irgendwelche Kriegsziele ging, wofür Kämpfer den Tod fanden, sondern um die systematische Vernichtung von Menschen aus keinem anderen Grunde als dem, daß sie Kulaken oder Juden waren. Da gab es keinen Platz für Heldentum, denn die so Verfolgten hatten nur den Tod zu erleiden, ob sie den Mut dazu hatten oder nicht. Und die Mörder legten keinen Wert auf Gräber oder Gedenken. Den Volkstrauertag tauften sie um und machten ihn zum Heldengedenktag, wobei die als Helden galten, die beim Morden umkamen und die "Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen", wie es im Horst-Wessel-Lied hieß, das die ganze Nation jeweils dem Deutschlandlied folgen ließ. Der Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges, mit dem der als Erlöser geltende Hitler ganz Europa überzog, kostete weitere Millionen Menschen das Leben: an den Fronten fielen die Männer, wodurch ihre Frauen zu Witwen wurden, und in den Städten fielen Männer, Frauen und Kinder dem unbarmherzigen Bombardement zum Opfer.

Man sollte meinen, man könnte nun im 21. Jahrhundert die Lehren aus dem 20., dem Jahrhundert der Wölfe, ziehen. Aber wir täuschen uns, wenn wir uns nur dankbar der Tatsache erinnern, daß unser Land seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vom Kriege verschont worden ist. Denn die Kriege gehen weiter. Am Hindukusch, wo deutsche Soldaten um des Friedens willen den Tod finden. Der Krieg ging weiter im Inneren unseres Landes, wo Eiferer mordend gegen die Bundesrepublik kämpften, alle Friedensbemühungen deutscher Politiker verachtend. Der Krieg geht weiter, wo fanatische Terroristen morden und selbstmorden. Und die gegenwärtigen Kriege überall in der Welt sind ohne Hilfsmittel gar nicht mehr aufzuzählen.

Belassen wir es also an diesem Volkstrauertag nicht einfach nur beim Gedenken an die Gefallenen, sondern schließen wir in unser Gedenken alle diejenigen ein, die der Gewalt zum Opfer gefallen sind und immer wieder fallen werden. In diesem Sinne seien Sie, die Bürger dieser Stadt, aufgefordert, über das Gedenken hinaus zu bedenken: es ist die Gewalt, die wir, oft in der Meinung, wir seien im Recht, und oft kaum bemerkt selbst ausüben, die die traurigen Ergebnisse herbeiführt, deren wir heute gedenken. Es könnte diese Erkenntnis sein, es könnten dies die Früchte sein, die dem sonst sinnlosen Töten und Morden doch noch einen Sinn verleihen. Machen wir also unser Totengedenken fruchtbar für die Lebenden!